Der gehörlose Vorsitzende ist ein Gedankenspiel der AG Barrierefreiheit in der Piratenpartei. Die Grundidee – nämlich alle Strukturen in der Partei so auszurichten, dass beispielsweise auch ein Gehörloser Vorsitzender sein könnte – begeistert zunächst und ist furchtbar sympathisch. Allerdings auch völlig undurchdacht. Das beginnt schon damit, dass Menschen mit verschiedenen Behinderungen verschiedene und leider teilweise auch konkurrierende Bedürfnisse an ihre Umwelt haben, die sich niemals vollständig realisieren lassen.
Bleiben wir beim Beispiel des Gehörlosen: Er ist in Telkos, Versammlungen, Hinterzimmergesprächen, auf Parteitagen, in Interviews und Talkrunden auf völlige Barrierefreiheit angewiesen, das bedeutet auf unbedingten und vollständigen guten Willen seiner Umgebung, so mit ihm zu kommunizieren, dass er damit zurechtkommt. Das ist etwas, worauf sich ein Politiker keinesfalls verlassen kann. Ein geflüstertes Wort am Rande, dass alle mitkriegen, nur der gehörlose Vorsitzende nicht – so etwas können sich normal hörende Menschen schlicht und ergreifend nicht vorstellen, untergräbt die Autorität. So viel Political Correctness, wie nötig wäre, um das auszugleichen, bringen auch die Piraten nicht mit.
Natürlich gibt es Mailinglisten, IRC, Wiki und Liquid Feedback. Allerdings findet Politik auch in der Piratenpartei eben dort nur teilweise statt sondern immer noch da, wo sich die Alphatiere konkret zusammensetzen und miteinander reden. Eine solche Situation nicht formalisierter Gruppengespräche überfordert nicht nur die meisten stärker schwerhörigen Hörgeräte-Träger und gehörlose CI-Träger, sondern auch Gebärdensprache-Dolmetscher, die übrigens auch nur zu bestimmten Arbeitszeiten zur Verfügung stünden und nicht unbedingt Samstag Abend um 23.00, obwohl sie dann vielleicht benötigt würden.
Bleibt noch das Argument „Oscar Pistorius„, der mit seinen High-Tech-Protesen schneller laufen kann als Menschen mit organischen Füßen. Eine solche technische Lösung ist zumindest theoretisch für fast jede Behinderung denkbar – zum Beispiel das Cochlea-Implantat für Gehörlose. Das hat aber rein gar nichts mit der Fragegestellung zu tun. In dem Moment, wo eine Behinderung technisch vollständig ausgeglichen wird, ist der Behinderte eigentlich gar nicht mehr behindert – jedenfalls nicht mehr auf eine barrierefreie Umgebung angewiesen. (Und ein solcher Kandidat könnte selbstverständlich auch eine Partei führen.)
Einem gehörlosen Kandidaten zum Bundesvorsitz würde ich jedenfalls meine Stimme verweigern. Bei mir sträubt sich alles bei dem Gedanken, einen kommunikationsbehinderten (und nichts anderes ist Gehörlosigkeit) Menschen einen Job machen zu lassen, der zu den kommunikationslastigsten überhaupt gehört. Wenn wir versuchen, mit diesem Anspruch Barrierefreiheit in der Partei durchzusetzen (und später nach außen zu tragen) weden wir zwangsläufig auf Ressentiments und Widerstände stoßen. Stattdessen sollten wir in erster Line schauen, wie wir das einfache Mitglied möglichst effektiv in die Partei und ihre (Kommunikations-)Strukturen integrieren. Ideen gäbe es etliche, z.B. keine Versammlungen mehr ohne Mikrofone und Mikroport-Anlage, um nur ein Beispiel zu nennen.
An die Spitze wählen möchte ich aber eine „handicapfreie Kampfmaschine“ für’s politische Haifischbecken. Das hat mit Diskriminierung wenig zu tun. Die ganze Debatte zeugt von einem veralteten Denken im Gegensatzpaar „behindert“ – „nicht behindert“. Der Übergang vom Haben oder Nichthaben einer Fähigkeit hin zu einer handfesten Behinderung ist durchaus fließend. Niemand wird Schwerhörige im Callcenter beschäftigen. Querschnittsgelämte arbeiten gemeinhin nicht auf dem Bau. Leute mit Problemen in Mathematik werden eher selten Ingenieur. Und trotzdem kann jemand wie Pablo Pineda Akademiker werden. Der Blick auf solche glänzenden Ausnahmen zeigt natürlich, was visionär möglich wäre, verstellt aber völlig den Blick den Alltag, die Probleme und Bedürfnisse der „ganz normalen Behinderten“, die in Deutschland in einem Ausmaß ausgegrenzt sind, von dem wir uns keine Vorstellung machen und über das wir auch nicht informiert sind. Das Gedankenspiel vom gehörlosen Vorsitzenden ist vor diesem Hintergrund Märchen- oder Leuchtturmpolitik.
P.S.: Nochmal anders sieht die Lage aus, als Abgenordneter zu kandidieren. Hier würde ich sehr wohl die Kandidatur gehörloser Menschen begrüßen. Die Arbeit als ein Abgeordneter unter vielen einer Fraktion ist aber nochmal eine ganz andere als die eines Parteivorsitzenden.
Update: Not quite like Beethoven hat mir geantwortet und ich stimme ihm durchaus zu. Besonders interessant finde ich seine Kritik an der gehörlosen Abgeordneten Helene Jarmer, die genau meine Meinung zu diesem Thema zusammenfasst.