Schlagwort: Snowden

  • Datenschutz ist ein seltsames Konzept

    tl;dr: Datenschutz als Konzept ist „broken beyond repair“ (oder: Warum ich schon länger kein Pirat mehr bin)

    datenschutz

    Ich weiß, Postprivacy ist seit Snowden out. Trotzdem beobachte ich das Treiben der Datenschützer (längst nicht nur der Piratenpartei) mit Befremden. Je länger ich über Datenschutz im Allgemeinen und den deutschen Datenschutz im Speziellen nachdenke, desto weniger verstehe ich das Denken dahinter.

    Datenschutzgesetze sollen vor Diskriminierung schützen. Das tun sie leidlich, aber um den Preis, dass sie auch Verbrechen schützen. Privatsphäre bedeutet halt nicht nur, in Ruhe zu onanieren, sondern auch unsichtbare Gewalt in Familien. Diskriminierung mit Datenschutz zu bekämpfen wird absurd, sobald man darüber nachdenkt, wieviel Diskriminierung aufgrund nicht schützbarer Daten passiert. Wir können weder unser Geschlecht verheimlichen, noch unsere Hautfarbe. Allein dadurch, dass wir vor die Tür gehen, geben wir permanent Daten von uns Preis. Die jüdische Gemeinde verschickt ihr Magazin „Jüdisches Berlin“ jetzt in neutralen Umschlägen, aus Angst vor Übergriffen. Ist das wirklich die Antwort, die wir den Juden in Deutschland anbieten wollen, oder wollen wir lieber Antisemitismus bekämpfen? Datenschutz konsequent zu Ende gedacht, würde bedeuten, dass wir alle eine Burka tragen müssten – nicht nur die Frauen.

    Vollkommen desillusionierend finde ich, dass sehr viele (ich betone: viele, längst nicht alle!) Datenschützer aus der Nerd-Szene sich nur für sich selbst zu interessieren scheinen. Sexismus, Rassismus und diverse andere Formen der Diskriminierung sind für sie kein Thema. Wer laut „Datenschutz“ schreit, ohne gleichzeitig gegen Diskriminierung vorzugehen, will in Wirklichkeit nur seinen eigenen, privaten Datenschutz zur Verteidigung meist männlicher, weißer Privilegien. Sehr viele dieser Nerd-Datenschützer agieren sogar selbst diskriminierend, wenn sie trollend im Netz unterwegs sind, und Datenschutz bietet ihnen dafür einen Schutzraum.

    Und dann ist da noch der Kult um die „freiheitlich demokratische Grundordnung“, im Rahmen dessen Menschen schonmal das Grundgesetz heiraten. Als ob das Grundgesetz in Stein gemeißelt wäre. Es enthält in der heutigen Form eine menschenfeindliche Asylgesetzgebung. Das Grundgesetz verhindert weder einen Striptease im Jobcenter noch das Ehegattensplitting und andere Formen sexistischer Diskriminierung. Es verhindert kein Racial Profiling und keine Hausdurchsuchung wegen einer harmlosen Hanfpflanze auf dem Balkon. Die FDGO verhindert sehr vieles nicht, wogegen Datenschutz schützen soll. Ich bin kein Jurist und kann nicht beurteilen, wieviele Gesetze grundgesetzwidrig sind und an welchen Stellen das Grundgesetz selbst repariert werden müsste. Klar ist nur: Zum Götzen sollte man es nicht machen.

    Aus dem Grundgesetz abgeleitet ist die „informationelle Selbstbestimmung“. Auch dieser Gedanke ist längst ad absurdum geführt, es sei denn, wir schalten das Internet ab. Sie setzt voraus, dass wir überblicken und kontrollieren könnten, wer wann welche Daten über uns gewinnt. Das ist ein absolut hoffnungsloses Unterfangen. Michael Seemann hat dazu das Wort „Kontrollverlust“ geprägt und in seinem Buch „Das neue Spiel“ dargelegt, wie wir damit umgehen könnten. Im Rückblick muss ich aber sagen: So etwas wie „informationelle Selbstbestimmung“ definieren zu wollen, zeugt selbst für die kaum digitalisierten 80er Jahre von rührender Ahnungslosigkeit. Selbst analog erzeugen wir ständig Informationen über uns und haben wenig Einfluss darauf, was unsere Mitmenschen aus diesen Informationen machen – sprich, wie sie über uns denken oder ob sie uns sogar diskriminieren.

    Dementsprechend katastrophal ist es um den Datenschutz in Deutschland bestellt. Wer irgendwo ein Cookie setzt und dabei Opt-Out-Regeln nicht bis aufs i-Tüpfelchen befolgt und als Totem eine von niemandem je gelesene Datenschutzbelehrung unters Impressum tackert, riskiert Ärger mit Behörden und abmahnenden Konkurrenten, während althergebrachte Printverlage das Listenprivileg genießen und einen schwunghaften Handel mit den Daten ihrer Abonnenten treiben dürfen. Ein Handel übrigens, den weder Google noch Facebook betreiben, weil die Daten für ihr Geschäftsmodell viel zu wertvoll sind. Deutsches Datenschutzrecht verhindert weder, dass Jobcenter-Mitarbeiter Zahnbürsten in „Bedarfsgemeinschaften“ zählen (was einer Hausdurchsuchung gleichkommt) noch dass „Bild“ Menschen an die Öffentlichkeit zerrt. Wer will in einer Gesellschaft leben, in der Datenschutzgesetze dermaßen streng und umfangreich sind, dass keine Information mehr durchtröpfelt, aufgrund derer diskriminiert werden könnte? Leben in der Einzelzelle? Das Sammeln und Auswerten von Daten verhilft uns zu Erkenntnisgewinn. Dass jemand Daten nutzt, um anderen zu schaden, ist nicht die Schuld der Daten sondern dieses Jemand. Datenschutz ist die Anwendung eines Konzeptes aus dem vergangenen Jahrhundert auf eine Welt, zu der er nicht mehr passt und kann nicht die politische Stoßrichtung sein. Sondern die Bekämpfung von Diskriminierung. Nicht Daten schützen – Menschen schützen!

    P.S.: Und die NSA? Die NSA, GCHQ und natürlich auch der BND sind ein Problem für sich. Kein Datenschutzgesetz dieser Welt wird sie davon abhalten, das zu tun, was sie tun. Übrigens auch kein Antidiskriminierungsgesetz. Ich weiß nicht, was wir dagegen tun können, ich weiß nur: Die aktuellen Datenschutzdebatten der letzten Jahre helfen hier kein Stück weiter.