Autor: Enno

  • Game Over

    Mitte Mai ging in Teilen der USA der Sprit aus. 87 Prozent der Tankstellen in Washington, D.C., saßen auf dem Trockenen, Autobesitzer kauften panikartig Benzin, die Fluggesellschaft American Airlines musste Flugpläne wegen Treibstoffmangels ändern. Der Benzinpreis stieg auf den höchsten Stand seit 2014, umgerechnet knapp 66 Eurocent pro Liter. Anzeige

    Das Problem war allerdings nicht ein Mangel an Benzin, sondern dass dieses nicht mehr transportiert werden konnte: Die Rechnerinfrastruktur des Betreibers Colonial Pipeline, dessen Pipeline-System über Tausende Kilometer Benzin, Heizöl und andere Ölprodukte vom Bundesstaat Texas aus an die Ostküste der USA liefert und dort verteilt, war gehackt worden.

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  • Brain-Computer-Interface: Wie Sprache direkt aus dem Gehirn ausgelesen wird

    Hirnströme per Brain-Computer-Interface (BCI) auszulesen, um beispielsweise mit „Gedankenkraft“ einen Cursor auf einem Bildschirm zu steuern, ist mittlerweile eine Aufgabe, die Studierende in Projektarbeiten lösen können. Allerdings ist hier mit Brain Computer Interface keine Steckverbindung ins Gehirn gemeint, sondern eine Haube voller Elektroden, wie sie seit Jahrzehnten in der Elektroenzephalografie (EEG) eingesetzt wird. Mit gestiegener Rechenleistung und Mustererkennung per Machine Learning eignen sich solche Systeme mittlerweile, um Computerspiele oder auch einen Rollstuhl zu steuern.

    Üblicherweise werden die Probanden gebeten, in Gedanken eine Bewegung auszuführen – zum Beispiel den linken Arm zu heben. Ein Machine-Learning-System lernt diese Muster und kann jedes mal, wenn das Muster erkannt wird, einen zugeordneten Befehl ausführen, etwa den Cursor auf einem Bildschirm nach oben zu setzen. Da sich die Muster von Mensch zu Mensch unterscheiden, muss die Maschine für jede Person individuell trainiert werden.

    Da drängt sich die Frage auf, ob sich nicht auch Sprache, Gesprochenes oder Gedanken irgendwie auslesen lassen.

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  • Sozioinformatik – Ein neuer Blick auf Informatik und Gesellschaft

    Heute erscheint bei Hanser ein Buch, das Katharina M. Zweig, Tobias D. Krafft, Anita Klingel und ich geschrieben haben. Es handelt sich um eine Einführung in die Modellierung und Analyse digitaler Technikfolgen und wendet sich an Studierende und Forschende in der Soziologie, der Informatik und angrenzenden Fachgebieten sowie auch Journalistïnnen und alle, die sich für das Wechselspiel zwischen Menschen und digitalen Systemen interessieren.

    Zweig, Krafft, Klingel, Park: Sozioinformatik, Hanser 2021

    Welche Auswirkungen könnte es haben, wenn Technik in den Körper implantiert wird und sich Menschen zunehmend zu Cyborgs entwickeln? Wie kann es passieren, dass sich mazedonische Jugendliche in den Präsidentschaftswahlkampf der USA einmischen? Wann entstehen Filterblasen?

    In den letzten Jahren konnten viele gewollte und ungewollte Technikfolgen der digitalen Transformation beobachtet werden. Die in diesem Buch vorgestellte Sozioinformatik befasst sich mit der Modellierung und Analyse solcher Phänomene: Sie untersucht dafür die Folgen der informatischen Gestaltung unter interdisziplinären Aspekten, insbesondere denen der Verhaltensökonomie.

    Zentrales Hilfsmittel der Analyse ist der Aufbau eines visuellen Wirkungsgefüges, mit dem verschiedene Dynamiken und Technikfolgen in der digitalen Transformation abgeschätzt werden können. Damit wird erklärbar, wann man eine Filterblase erwarten kann, warum manche digitale Technik unsere Aufmerksamkeit so effektiv bindet, und warum Software dazu verführen kann, Einfluss auf Wahlen in einem anderen Land zu nehmen.

    Das Buch eignet sich als Grundlage für »Informatik und Gesellschaft« Vorlesungen in der Informatik, genauso als Grundlage für Seminare in den Gesellschaftswissenschaften oder zur Besprechung digitaler Phänomene in der Schule. Es bietet zudem eine neue Kommunikationsmethode, die im Journalismus, der Politik oder in der Beratung eingesetzt werden kann.

  • Dfinity: Warum der Internet-Computer vorerst nicht die Zukunft des Netzes ist

    Geht es nach dem Informatiker und Entrepreneur Dominic Williams, dann hat seine Stiftung Dfinity vor wenigen Tagen das Internet der Zukunft eingeschaltet. Es handelt sich um einen irgendwann mal weltweiten Rechnerverbund, dessen Standorte sich derzeit in den USA, der EU und Singapur befinden. Darauf laufen virtualisierte Anwendungen ohne feste physische Adresse in sogenannten Kanistern, die auf Smart Contracts und somit Einträgen in einer Blockchain basieren. Sie enthalten Code, welcher als WebAssembly im Browser der Endanwender ausgeführt werden soll.

    Ein Kanister kann eine Webseite beherbergen oder eine App, es können aber auch viele Kanister zu großen verteilten Systemen zusammengeschaltet werden. Die Kommunikation findet über ein einziges Protokoll statt, dem Internet Computer Protocol (ICP), welches Cloud-Dienste, Datenbanken, Dateisysteme, Webserver, DNS-Server und viele andere Dienste und Protokolle des heutigen Internets überflüssig machen soll – angeblich bis hin zur Antivirensoftware. Die Dienste, die auf diesem „Internet Computer“ oder „World Computer“ laufen, sind offen und können von jedem Entwickler programmiert und angeboten werden. Die bisherigen (Quasi-)Monopole der großen IT-Konzerne sollen damit gebrochen werden.

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  • Zusammenfassung meiner Analyse von #allesdichtmachen bei Deutschlandfunk Kultur

    Der Journalist Enno Park beschäftigt sich mit dem digitalen Wandel und dessen Auswirkungen auf die Gesellschaft. Für ihn transportieren die Videos selbst schon rechtsradikale Inhalte.

    „Wenn man sich alle Videos der Reihe nach anschaut“, so Park, „dann wird klar, dass sie in ihrem Subtext eine Geschichte erzählen. Auch wenn die einzelnen Videos und Personen sicher nicht rechtsradikal sind, werden Dinge erzählt, die sich auf die Schlagpunkte Lügenpresse, Merkel-Diktatur und so weiter bringen lassen.“

    Park bezeichnet diesen Subtext als „Dog Whistling“. „Sie sagen etwas und senden gleichzeitig Signale aus, die nur von einer ganz bestimmten Zielgruppe verstanden werden.“ Der ehemalige US-Präsident Donald Trump habe das bis zur Meisterschaft betrieben. Das könne jedoch auch aus Versehen passieren.

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  • Black Box Blastoid

    Für Fortschritte im Bereich der Stammzellenforschung wäre auch die Forschung an menschlichen Embryonen hilfreich, doch die ist unter anderem in Deutschland nicht oder nur sehr eingeschränkt erlaubt. Deshalb suchen Forscher nach einem Ersatz. Dafür böte sich etwa der Einsatz von Tierembryonen an. Doch diese ähneln menschlichen Embryonen nur bis zu einem gewissen Grad.

    Nun haben Forscher einen möglicherweise besseren Ersatz entwickelt: aus Stammzellen hergestellte sogenannte Blastoide. Diese ähneln menschlichen Blastozysten, also Embryonen in jenem Entwicklungsstadium, in welchem aus ihnen embryonale Stammzellen für experimentelle Zwecke gewonnen werden können. In diesem Stadium besteht der Zellhaufen aus verschiedenen Teilen: Eine äußere Zellschicht umgibt einen Hohlraum, in dem sich die Vorläufer von Plazenta, Dottersack und dem eigentlichen Embryo entwickeln. Als Nächstes nistet sich dieser Zellhaufen an der Gebärmutterwand ein und beginnt mit der Entwicklung zum Fötus.

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  • Geschäfte mit Luca

    Das Prinzip der App Luca ist einfach: Wer zum Beispiel eine Kneipe, ein Konzert oder ein Museum besucht, scannt einen QR-Code und trägt sich auf diese Weise in eine digitale Liste ein. Sollte sich herausstellen, dass sich an diesem Ort zur gleichen Zeit eine mit Sars-CoV-2 infizierte Person aufgehalten hat, werden alle, die diesen Code gescannt hatten, per App informiert, ebenso wie das Gesundheitsamt.

    Das klingt zu schön, um wahr zu sein. Wegen ihrer zahlreichen technischen Sicherheitslücken sind Datenschützer und IT-Expertinnen nicht begeistert von der App: Die gesammelten personenbezogenen Daten könnten in falsche Hände geraten und missbraucht werden. Es sei fraglich, ob die Daten ausreichend geschützt werden und ob das Konzept, mit dem Daten verschlüsselt und die Sicherheitsschlüssel verteilt werden, ausreichend ist.

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  • 1 Meme sagt mehr als 1.000 Worte

    Anfang des Jahres richteten Reddit-User Milliardenschäden bei Hedgefonds an. Sie trieben durch Kaufabsprachen den Aktienkurs des kriselnden Spielehändlers Gamestop in die Höhe, was die Fonds, die mit Leerverkäufen auf fallende Kurse gesetzt hatten, zwang, sie zu weit überhöhten Preisen zu kaufen. Das Wort vom „Meme-Stock“ machte die Runde, dem Anlagenkauf als Internet-Phänomen und Kommunikationsmuster. Viele Menschen mussten erkennen, dass Memes mehr sind als lustige Bildchen im Internet. Sie haben massive Auswirkungen auf die Gesellschaft und sind ein zentrales Medium geworden, über das gesellschaftliche Prozesse verhandelt werden.

    Wenn man virale Bilder und andere Internet-Phänomene als Memes bezeichnet, finden sich eigentlich immer Schlaumeier, die einem erklären wollen, dass Memes viel mehr seien. Vordergründig stimmt das: Geprägt wurde das Wort „Meme“ vom Evolutionsbiologen Richard Dawkins, der in seinem Buch „The selfish Gene“ 1976 eine Analogie zwischen biologischen und gesellschaftlichen Prozessen zog.

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  • Automatisierte Diskriminierung

    Die Universitätsklinik Stanford im US-Bundesstaat Kalifornien hat so viele Mitarbeiter wie manch eine Kleinstadt Einwohner. Einschließlich Kinderklinik, Forschungsabteilungen und Lehrbetrieb arbeiten dort rund 30 000 Menschen. Zu entscheiden, in welcher Reihenfolge sie gegen Sars-CoV-2 geimpft werden sollen, ist schwierig, wenn, wie Mitte Dezember, zunächst nur 5 000 Impfdosen zur Verfügung stehen.

    Also entwickelte eine Arbeitsgruppe einen Algorithmus, der festlegte, in welcher Reihenfolge die Beschäftigten geimpft werden sollten. Das Ergebnis zog wütende Proteste von Assistenzärztinnen und -ärzten nach sich. Sie gehören zu denen, die an der Universitätsklinik am häufigsten in direkten Kontakt mit Patientinnen und Patienten kommen, viele auch mit solchen, die an Covid-19 erkrankt sind. Dennoch sollten laut Algorithmus Verwaltungsangestellte im Homeoffice und hochrangige Ärzte mit wenig Patientenkontakt vor ihnen geimpft werden. Von den rund 1 300 Assistenzärzten, die in der Klinik arbeiten, sollten nur sieben an der ersten Impfrunde teilnehmen.

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  • 16 Corona-Mythen und Fehlannahmen, die man sich abgewöhnen sollte

    Im Verlauf der Sars-CoV2-Pandemie haben sich einige Mythen und Legenden herausgebildet, die es erschweren, sinnvoll über Maßnahmen zu ihrer Bekämpfung zu debattieren. Die meisten dieser Mythen und Legenden haben den Effekt, dass sie eine weitere Diskussion über den jeweiligen Aspekt verhindern. Anlass für diesen Text gab eine Stellungnahme des „Expertenrates Corona der Landesregierung Nordrhein-Westfalen“, die ähnlich einem Bullshit-Bingo einen guten Teil der unten stehenden Punkte in sich vereint.

    Wichtig: Hier geht es nicht um die Hirngespinste aus der Querdenken-Bewegung. Nur falls sich Leser:innen aus einer bestimmten Ecke schon freuten: Hier will ich weder das Virus oder seine Gefährlichkeit noch die Impfung oder den Sinn des Mund-Nasen-Schutzes in Frage stellen. Hier geht es nicht um Verschwörungsmythen, sondern um Ansichten, die sich festgesetzt haben und immer wieder geäußert werden, obwohl sie recht fragwürdig sind.

    1. Man wisse nicht, wo die Leute sich anstecken

    Streng genommen stimmt das. Wir wissen es wirklich nicht und wir wissen es noch weniger, seitdem die Nachverfolgung durch die Gesundheitsämter zusammengebrochen ist. Trotzdem wissen wir eine ganze Menge: Dass Infektionen überwiegend dadurch zustande kommen, dass mehrere Menschen längere Zeit in geschlossenen Räumen miteinander verbringen. Die Konsequenz ist also, nicht mehr gemeinsam in geschlossenen Räumen herumzusitzen. Leider halten wir uns nicht daran, wenn es um Arbeitsplätze und den öffentlichen Nahverkehr geht (und bis neulich auch um Schul- und Kitaschließungen). Doch immer, wenn entsprechende Konsequenzen eingefordert werden, lautet die Antwort, wir wüssten ja gar nicht, wo die Leute sich anstecken. Ein ähnlicher Showstopper ist das Argument, erst müsse alles noch genauer erforscht werden. Ja, muss es, aber Entscheidungen müssen wir eben jetzt auf der Basis dessen fällen, was wir bereits wissen.

    2. Arbeitsstätten sollten angeblich alle 60 Minuten gelüftet werden

    Diese Maßnahme findet sich auf zahlreichen Webseiten, Merkblättern und Plakaten. Sie wird von Ministerien und Behörden verbreitet, von Versicherungen und Genossenschaften. Das Problem ist nur: Sie ist falsch. Die Empfehlung, alle 60 Minuten die Fenster zu öffnen, geht auf die „Technischen Regeln für Arbeitsstätten“ (ASR 3.6) der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAUA) zurück. Sie stammen von 2012 und wurden das letzte mal 2018 verändert, beziehen sich also gar nicht auf die Sars-CoV2-Pandemie. Das bedeutet: Man soll in Räumen ohne Lüftungsanlage sowieso schon im Normalbetrieb ganz ohne Pandemie alle 60 Minuten die Fenster öffnen. So heißt es dann auch in der Broschüre „Infektionsschutzgerechtes Lüften“ von September 2020: „Diese Frequenz ist in der Zeit der Epidemie möglichst zu erhöhen.“ Wie weit sie zu erhöhen ist, steht da nicht, aber immerhin gibt es einen Fingerzeig des RKI: Es betrachtet den Aufenthalt in einem Raum mit hoher Konzentration infektiöser Aerosole von mehr als 30 Minuten als hohes Risiko. Wer alle 30 Minuten stoßlüftet, sitzt nicht mehr als 30 Minuten in einem solchen Raum.

    3. Datenschutz verhindere eine effektive Corona-App

    Ein besonders hartnäckiger Mythos, bei dem man den Eindruck nicht loswird, dass es hier weniger um Corona geht als darum, ein Argument zur Reduzierung des Datenschutzes zu finden. Die Legende beginnt schon bei der oft wiederholten Aussage, die Datenschützer:innen hätten sich beim Design der App gegen die Bundesregierung durchgesetzt. Das stimmt nicht. Das in Deutschland verwendete Framework für Contact-Tracing-Apps wurde durch die Marktmacht von Apple und Google durchgesetzt. Dass Contact-Tracing auf Bluetooth-Basis datenschutzfreundlicher ist, ist Nebensache. Hauptsache ist, dass Bluetooth viel genauer ist als die Positionsbestimmung per GPS, Funkzelle und WLAN. Wenn wir anfangen wollen, die Position aller Telefone zu überwachen, benötigen wir dafür keine App sondern könnten die Daten einfach von den Mobilfunk-Anbietern holen. Technisch gesehen ist das eine Funkzellenabfrage und wird vielfach zur Kriminalitätsbekämpfung eingesetzt. Dass wir die bisher zur Pandemiebekämpfung nicht einsetzen, hat keine Datenschutzdebatte verhindert, weil es dazu nie eine nennenswerte Datenschutzdebatte gab. Und es gab keine solche Datenschutzdebatte, weil kaum ein Experte das fordert. Und das ist so, weil die Daten zu ungenau und zu umfangreich wären, um fürs Contact-Tracing sinnvoll von den Gesundheitsämtern genutzt werden zu können. Es gibt durchaus offene Wünsche an die App, wie etwa eine Cluster-Erkennung, deren bisherige Nichterfüllung aber auch nichts mit Datenschutz zu tun hat.

    4. In Ostasien hätten sie ohne Datenschutz viel geilere Anti-Corona-Apps

    Nein. In Ostasien wird jenseits von Apps eine andere Strategie zur Bekämpfung der Pandemie verfolgt als im Westen. Sie besteht aus strenger Kontaktnachverfolgung, strenger Quarantäne nicht nur im Infektions- sondern auch im Verdachtsfall bis hin zum Lockdown und vor allem darin, dass man diese Maßnahmen nicht erst dann durchführt, wenn die Zahlen hoch sind. Apps werden entweder gar nicht verwendet oder zu einem anderen Zweck, zum Beispiel als eine Art elektronische Fußfessel um die Quarantäne zu überwachen. Eine Ausnahme ist Japan. Dort wird technisch die gleiche App verwendet wie hierzulande.

    5.  Kinder seien weniger ansteckend

    Diese Aussage wird fast ausschließlich in Verbindung mit dem Wunsch nach Schul- und Kita-Öffnungen geäußert. Ich habe sie auch heute, am 18. Januar 2021, wieder irgendwo gelesen, obwohl Studie um Studie um Studie aus allen Himmelsrichtungen immer wieder dasselbe Ergebnis haben: Schulschließungen tragen erheblich dazu bei, die Infektionszahlen zu senken. Ob ein Schulkind in bestimmten Altersklassen am Ende einige Prozent weniger ansteckend ist als eine erwachsene Person, ändert daran nichts.

    6. Der Lockdown verhindere, dass die Kinder etwas lernen

    Auch ein Argument zum Herbeiwünschen von Schul- und Kita-Öffnungen, das übersieht, dass nicht der Lockdown den Unterricht oder Betreuung verhindert, sondern nur den klassischen Präsenzunterricht. Wenn die Kinder nichts lernen, dann liegt das am mangelhaften technischen wie didaktischen Digitalisierungsgrad. Es liegt daran, dass engagierte Eltern und Lehrer:innen mit tollen Konzepten von ihren Schulverwaltungen zurückgepfiffen werden. Und es liegt am Unwillen oder der Unfähigkeit, Ersatzunterricht in Kleingruppen zu organisieren. Außerdem liegt es an der Entscheidung des Gesetzgebers, kein Geld für ausreichende Lüftungsanlagen mit Virenfilter auszugeben, deren Anschaffung für alle deutschen Klassenzimmer voraussichtlich weniger kosten würde als die Hilfszahlungen an die Lufthansa. Wenn Kinder also gerade nichts lernen, dann weil das Schulwesen wegen seiner Inflexibilität versagt und finanziell ausgetrocknet ist, worunter übrigens nicht nur die Schüler:innen sondern auch die Lehrer:innen besonders während der Pandemie leiden.

    7. Die Leute würden sich nicht verantwortlich verhalten

    Vielleicht tun sie das wirklich nicht, aber ich habe den Verdacht, dass die Leute, die zu „Ein Bisschen Sars muss sein“ auf der Straße tanzen oder stoisch ihren Ski-Urlaub durchführen, eine Minderheit sind. Ich glaube, die meisten Menschen wollen sich verantwortlich verhalten. Das Problem ist nur: sie können es nicht, weil sie nicht dürfen. Sie sind in einem Regelwerk gefangen, dass ihnen verantwortliches Handeln unmöglich macht. Sie können sich zum Beispiel nicht selbst in Quarantäne begeben, wenn der Verdacht auf eine Infektion besteht, weil sie keinerlei Anspruch auf Entschädigung oder Lohnfortzahlung haben und sie ihren Job riskieren, wenn sie dies ohne Anordnung der Gesundheitsämter tun. Und die Gesundheitsämter sind zusammengebrochen, was die Kontaktnachverfolgung und das Ausstellen solcher Anordnungen betrifft. Ähnliches gilt für Eltern, die ein Bußgeld riskierten, wenn sie ihre Kinder eigenmächtig aus dem Unterricht nehmen. Von Regelungen für Leute, die mit Hochrisiko-Patient:innen leben ganz zu schweigen.

    8. Corona macht einsam

    Auch das stimmt so nicht. Bekannte von mir machen das so: Sie haben letztes Frühjahr eine In-Group mit einer Handvoll Leute festgelegt. Diese In-Group trifft sich regelmäßig zu Aktivitäten aller Art und kümmert sich umeinander, benimmt sich aber nach außen hin als sei sie unter Quarantäne. Das ist eine effektive Verhaltensstrategie zur Pandemiebekämpfung, wenn keinerlei andere Hilfsmittel und Informationen zur Verfügung stehen. Den zahllosen Klagen, dass Corona einsam mache, stehen selten Aufrufe gegenüber, solche Gruppen zu bilden, in denen die Menschen sich dann umeinander kümmern. Bzw. es wird stillschweigend vorausgesetzt, dass die Familie eine solche Gruppe sei. Leider ist es in Deutschland kaum möglich, eine solche Gruppe zu bilden, weil das voraussetzt, dass alle Mitglieder der Gruppe verantwortlich handeln. Und das geht eben kaum, siehe voriger Punkt. Darüber hinaus verhindern allzu restriktive Gesetze, wie viele Menschen nun wie viele andere treffen dürfen, die Bildung solcher Gruppen. Menschen sind gerade wirklich einsam, aber das liegt nicht an der Pandemie, sondern an unserem Unvermögen, klug mit ihr umzugehen.

    9. In Armut lebende Menschen sind besonders benachteiligt

    Das stimmt, ist aber eine etwas witzlose Aussage, weil sie eigentlich bei fast allem benachteiligt sind. Seltsamerweise erinnern sich viele weniger stark von Armut betroffene Menschen erst an sie, wenn sie Argumente gegen Corona-Maßnahmen benötigen. Für politische Vorschläge, wie man in Armut lebende Menschen auf eine Weise besser stellen könnte, dass sie gut mit den Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung klar kommen, sind weniger in Armut lebende Menschen leider häufig nicht so aufgeschlossen.

    10. Die bösen Vorgesetzten seien schuld

    Chefs und Vorgesetzte stehen unter dem Druck, Gewinne zu erwirtschaften. Das bedeutet auch, dass sie in rechtlicher Hinsicht genau das tun und lassen, was ihnen gesetzlich vorgeschrieben ist. Tun sie weniger, müssen sie haften. Tun sie mehr und kostest es Geld (oder glauben sie, dass es Geld kostet), müssen sie das finanziell verantworten können – vor sich selbst, vor ihren Chefs und/oder vor ihren Geldgebern und Shareholdern. Die allermeisten Chefs sind keine Epidemiologen/Virologen, das heißt, sie holen sich Beratung, zum Beispiel bei ihrer lokalen IHK. Und die lokale IHK sagt ihnen, sie sollen alle 60 Minuten lüften (siehe oben) und die Mitarbeiter:innen sollten auf dem Weg zum Arbeitsplatz einen Mund-Nasen-Schutz tragen. Also lassen sie alle 60 Minuten lüften und verordnen den Mund-Nasen-Schutz auf dem Weg zum Arbeitsplatz – und tun kein Bisschen mehr. Wenn ihnen dämmert, dass das nicht reicht, findet sich immer irgendwo ein Streeck, der abwiegelt und sie beruhigt. Und wenn sie Appelle aus der Politik hören, dann behandeln sie sie wie Appelle aus der Politik: Etwas Wünschenswertes, dessen man sich vielleicht annimmt, wenn man gerade die Ressourcen dafür frei hat. Aber nicht gerade in einer Krise. Und jetzt ist eben gerade Krise.

    11. Zu viel Föderalismus verhindere stringente Maßnahmen

    Nein, wenn alle Landesfürsten im Großen und Ganzen die gleiche Politik machen, dann ist das kein Zuviel sondern ein Zuwenig an Förderalismus. Die Ministerpräsident:innenkonferenz, eine Art Nebenregierung, die im Sozialkundeunterricht nicht erwähnt wurde, weil sie von den Gründer:innen der Republik eigentlich so nicht vorgesehen war, hätte im Gegenteil eine einmalige Möglichkeit, sich auf sehr harte Maßnahmen zu einigen, weil alle 16 immer auf die anderen 15 verweisen könnten und nie alleine dastehen, wenn sie sich in ihrem jeweiligen Bundesland für die Maßnahmen rechtfertigen müssen. Leider benutzen sie den Spruch „Wir brauchen eine bundeseinheitliche Regelung“ vor allem gerne als Ausrede, erstmal nichts oder zu wenig zu tun. Denn formal ist die Ministerpräsident:innenkonferenz kein offizielles Organ der Bundesrepublik, weshalb ihre Beschlüsse nicht bindend sind.

    12. Die Parlamente müssten stärker eingebunden werden

    Lieblingsfloskel von Christian Lindner wann immer er etwas zu Corona sagen soll. Die Parlamente müssen von niemandem eingebunden werden, sie sind schon eingebunden. Sie verabschieden die Infektionsschutzgesetze, auf deren Basis dann die Regierungen agieren. Und sie können diese Gesetze jederzeit ändern und sich Kompetenzen für Parlamente selbst reinschreiben. Letztlich ist die Forderung, die Parlamente müssten stärker eingebunden werden, in diesem Fall die Simulation einer Forderung: Man stellt sie und tut damit so, als würde man Forderungen haben und Politik betreiben.

    13. Geimpfte würden die Krankheit nicht übertragen

    Bei den meisten Infektionskrankheiten stimmt das: Wer geimpft ist, ist nicht nur immun sondern überträgt eine Krankheit auch nicht mehr weiter. Vermutlich ist das auch bei Corona so. Vielleicht aber auch nicht. Da sich das Virus im Rachenraum festsetzt, bevor es in andere Bereiche des Körpers vordringt und die Immunantwort einsetzt, ist es möglich, dass ein geimpfter Mensch nicht krank wird, aber für einige Zeit Virus im Rachen hat und an andere Menschen weiter geben kann. Das wissen wir einfach noch nicht. Solange wir das nicht wissen, ist es witzlos, über eine Impflicht und über die Aufhebung der Einschränkungen für Geimpfte zu debattieren.

    14. Corona beträfe nur die Alten

    Alte Menschen haben ein wesentlich größeres Risiko an Corona zu sterben. Das stimmt. Aus dem Grund fahren wir auch immer extra schnell, wenn wir mit dem Auto am Seniorenheim vorbei kommen, weil alle, die wir dort überfahren, eh bald gestorben wären.

    15. Wir müssten die vulnerablen Gruppen schützen

    Ja, aber die vulnerablen Gruppen sind eben nicht nur die Senioren und Behinderten in den Heimen, es sind auch die Senioren bei dir zu Hause und im Supermarkt und auf deiner Weihnachtsfeier und die Behinderten bei dir zu Hause, im Supermarkt und bei dir am Arbeitsplatz und die chronisch Kranken bei dir zu Hause, im Supermarkt und am Arbeitsplatz. Dein:e Kolleg:in hat Diabetes, dein:e Busfahrer:in ist adipös, der:die medizinische Fachangestellte ist herzkrank und die Person an der Supermarktkasse hat Asthma. Diese Leute lassen sich nicht durch Regeln für Heime schützen sondern nur durch Maßnahmen, die alle im Alltag betreffen.

    16. Die meisten überleben

    Zum Glück. Die Frage ist wie. Der Katalog der Langzeitfolgen der Erkrankung wird immer länger und es kristallisiert sich heraus, dass ein signifikanter Anteil der Menschen für den Rest ihres Lebens in ihrer Leistungsfähigkeit beeinträchtigt sind – wahrscheinlich mehr als daran sterben. Von Lungenschäden über Schäden am Herz-Kreislaufsystem bis hin zu neurologischen Beeinträchtigungen und herabgesetztem IQ ist allerlei dabei. Aber stimmt, sie sind sicherlich froh, dass sie überlebt haben.

    17. Für die Kontaktnachverfolgung komme es auf eine gute Corona-Warn-App an

    Nein. Eine Corona-Warnapp haben nur ein Teil der Menschen überhaupt auf ihrem Telefon installiert. Viele können auch gar nicht, weil sie nur ein veraltetes Smartphone haben. Und etwa 26 Millionen Menschen in Deutschland haben gar kein Smartphone. Im Fall eines Risikokontaktes kann es nur zu einer Warnung kommen, wenn beide, infizierte Person und gewarnte Person, die App haben. Diese doppelte Kondition verringert die Wahrscheinlichkeit stark, dass ein Risikokontakt durch die App aufgedeckt wird. Die App kann die manuelle Kontaktverfolgung also nicht ersetzen, nur ergänzen. Das heißt aber nicht, dass die App sinnlos ist. Jede durch vermiedene Infektion bremst die Verbreitung und rettet potenziell Leben. Aber die Hauptarbeit der Kontaktnachverfolgung ist Handarbeit in den Gesundheitsämtern – übrigens auch in den so viel bemühten „ostasiatischen Ländern“.

    18. Der Inzidenz-Grenzwert sei nicht wissenschaftlich sondern willkürlich

    Stimmt, wissenschaftlich ist der nicht, aber das muss der auch gar nicht sein. Aber willkürlich ausgedacht ist er eben auch nicht. Im Gegenteil: die Zahl 50 (bzw. 35), an der wir uns in Deutschland orientieren, ist keine Naturkonstante sondern ein einfacher Erfahrungswert: Bis zu welcher Inzidenz schaffen Gesundheitsämter es noch, die Kontakte infizierter Personen nachzuvollziehen und in Quarantäne zu schicken? Sind die Gesundheitsämter schlecht ausgestattet, kann der Wert auch viel niedriger liegen. Sind sie sehr gut ausgestattet, kann der Wert höher sein. In Deutschland ist das RKI zum Ergebnis gekommen, dass mit der bestehenden Ausstattung ab einer Inzidenz von 50 keine ausreichende Kontaktnachverfolgung mehr möglich ist und zu anderen Mitteln wie Shutdowns/Lockdowns in Landkreisen u.ä. gegriffen werden muss. Das Zusammenbrechen der Kontaktnachverfolgung bei höheren Inzidenzen ließ sich im Herbst 2020 in Echtzeit beobachten. Und auch, was passiert, wenn ein Überschreiten der 50 durch die verantwortlichen Politiker:innen ignoriert wird. Die Zahl 50 ist übrigens wirklich schon die Grenze, ab der es nicht mehr geht. Deshalb sollte die eigentliche Richtzahl 35 betragen, um immer einen Puffer zu haben. Allerdings gilt das ganze für die Situation im Frühjahr 2020. Seitdem das Virus nicht mehr in Clustern auftaucht sondern in der Bevölkerung diffundiert, sind eigentlich noch niedrigere Inzidenzen notwendig.