Heute erschien im „Spiegel“ (ganz altmodisch aus Papier) eine Titelstory, die sich mit dem Internet auseinander setzt. Das klingt dann ungefähr so:
Während an der Oberfläche des digitalen Reichs tausend bunte Blumen blühen, …wuchert im Wurzelwerk darunter ein Pilzgeflecht aus Intrigen, Täuschungen und Terror.
Das Netz … bedroht den Frieden der Welt. …
Soziale und moralische Verwahrlosung erstickt … den Freiheitsgeist.
…enthalten Pöbeleien, Vulgäres, das die Bürger … sich nicht einmal unter vier Augen sagen würden.
In dieser Parallelwelt haben sich junge Leute … an Umgangsformen gewöhnt, die früher nur als Unterschichtenphänomen … besorgt beobachtet wurden.
…Massenspeicher für alle Übel, die Menschen sich ausdenken, vom schlichten Schmutz bis zu den schlimmsten Auswüchsen der Phantasie.
Der Spiegel, 10. August 2009
Dies sind Kostproben aus nur einer von 11 Seiten. Manches wird in dem über weite Strecken wirren Artikel relativiert, aber bloß nicht zu sehr, und nicht ohne gleich auf die nächste Ungeheuerlichkeit zu sprechen zu kommen. In welcher Parallelwelt die Autoren dieses Artikels leben, weiß ich nicht so genau. Das Internet, in dem ich mich bewege, sieht anders aus. Natürlich gibt es viel Schmutz und Dreck, aber den gibt es auch ganz ohne Internet auf den Straßen. Einmal mehr wird die Legende verbreitet, das Internet sei ein „rechtsfreier Raum“, die längst widerlegt ist: „Verglichen mit dem Netz ist das Leben ein rechtsfreier Raum.“
Randphänomene werden aufgebauscht. Voruteile kultiviert. Die Autoren unterschlagen einfach, dass sich eine neue Kultur und Ethik im Netz entwickelt. Dass es sehr wohl in der Lage ist, sich immer neu und im kleinen selbst zu regulieren, auch wenn nicht unbedingt alle Werte des Offline-Lebens geteilt werden.
Eigentlich will ich diesen geistigen Ausfluss hier gar nicht rezensieren, sondern auf einen weiteren Artikel aufmerksam machen: einen Artikel, der ebenfalls heute erschien, ebenfalls im „Spiegel“ allerdings bei „Spiegel Online“: „10 Thesen zum Web: Warum die Dummheit des Internets ein Segen ist.“ Da wird beschrieben, warum es gut ist, dass das Netz nicht auf die Inhalte schaut, die es transportiert. Dass nicht das Netz an irgend etwas schuldig ist, sondern nur die Anwender, die es missbrauchen. Warum es albern ist, beim Benutzen des Social Web von Exhibionismus zu sprechen. Warum der Jugendschutz nicht über alles andere gestellt werden kann. Warum Kulturpessimus nicht weiterhilft und so weiter, und so weiter und so weiter. Also in jeder Hinsicht das komplette Gegenteil.
Der erste Artikel erschien ausschließlich im gedruckten Heft, aber nicht online. Der zweite Artikel erschien ausschließlich online, aber nicht im Heft. Auf dass die „Offliner“ ein weiteres mal ihre Vorurteile in krassester Weise bestätigt sehen dürfen.
Da verstärkt sich ein Trend, der schon öfters zu beobachten war, z.B. als die „Zeit“ ein Streitgespräch zwischen Franziska Heine und Ursula von der Leyen online und offline in unterschiedlichen Fassungen veröffentlichte. Was die großen Verlage hier treiben, ist ein ekelhaftes Spiel. Anstatt für gegenseitiges Verständnis zu sorgen, anstatt zu informieren und damit die Grundlage für eine sachliche Debatte zu liefern, werden tiefe Gräben gerissen zwischen „Onlinern“ und Netzabstinenzlern. Hauptsache krass! Hauptsache Auflage!
Eigentlich sollte mich das gerade beim „Spiegel“ nicht weiter wundern, weiß ich doch aus Erfahrung, wie sehr er Sachverhalte verdreht: Das bemerke ich immer wieder, wenn er über etwas schreibt, womit ich mich selbst gut auskenne. Und immer überkommt mich das gewisse Gruseln: Schreiben die über alle Themen so? Was habe ich da früher an Desinformation konsumiert? Aus diesem Grund lese ich den „Spiegel“ seit Jahren nicht mehr.
Nein, eigentlich sollte es mich nicht überaschen. Aber dass sie auf derart infame Weise ein doppeltes Spiel treiben – das überrascht mich dann doch.
57 Antworten zu „SPIEGEL vs. SPON: Das doppelte Spiel“