19 Menschen starben auf der Loveparade. Twitter war gestern zeitweise unerträglich. Alle Verhaltensweisen angesichts von Katastrophen, auch die ekelhaften, liefen da durch meine Timeline. Über die verbalen Autobahngaffer und Witzereißer will ich hier gar nichts weiter sagen. Sie gab es offenbar immer und wird es immer geben. Sensationslust ist uns wohl angeboren, auch wenn einige Besonnene unter uns versuchen, sie zu unterdrücken. Außerdem kann Sarkasmus und schwarzer Humor eine Strategie sein, sich emotional vor etwas zu schützen, das einem sonst zu nahe geht, oder es zu verarbeiten.
Dass Meckereien über die schlechte Berichterstattung und überforderte Fernsehmoderatoren angesichts eines solchen Unglücksfalls interessante Einblicke in die Herzlosigkeit mancher Kommentatoren geben, war auch zu erwarten. Mir geht es um einen anderen Typ Timeline-Bewohner, der mit seinen Äußerungen auf Trauer und Betroffenheit selbst abzielt. Trauern tun wir eigentlich nicht – Trauer ist das Gefühl eines schweren, persönlichen Verlustes, den wir erst einmal verarbeiten müssen. Trauern werden die Angehörigen, was wir aber haben können, ist Mitgefühl. Auf Twitter machte sich gestern Entsetzen und beredte Sprachlosigkeit breit, als die Nachricht von der Loveparade kam. Man nennt das auch „sich betroffen fühlen“.
„Betroffen“, das ist so ein Wort aus dem Gutmenschen-Vokabular. Wer es gebraucht, riskiert, dass ihm Falschheit unterstellt wird. Mag sein, dass die Betroffenheit zur Floskel verkommen ist, weil es die Political Correctness gebietet, in bestimmten Situationen Betroffenheit zur Schau zu stellen. Flugs stellten sich die ersten Beschimpfungen ein. Wer sich auf Twitter betroffen zeigte, wurde unterstellt, dies nur für die Öffentlichkeit zu tun.
Dazu mischte sich schnell ein zweiter Typus und begann mit dem Bodycount: Was das Betroffenheitsgerede solle, schließlich stürben täglich woanders viel mehr Menschen an Hunger und in Krisengebieten. Ja das ist wahr, ist aber gefährlich dicht an Dingen wie Hitler-Stalin-Vergleichen anhand der Opferzahlen. Leid soll hier relativiert werden, obwohl Leid und Mitgefühl etwas absolutes und vor allem subjektives sind. Eine solche Relativierung erlaubt nur zwei Reaktionen: Entweder sind die Tote der Loveparade egal, weil ständig irgendwo Menschen sterben, oder aber wir wir müssen ständig und permanent jedwedes Leid in der Welt betrauern – ein Ding der Unmöglichkeit.
Genau dieses Paradox stammt übrigens aus dem christlichen Glauben, besonders aus dem protestantischen, der ja den Karfreitag als höchsten Feiertag dem Ostersonntag vorzieht und das Gewicht auf Tod und Schuld und weniger auf Auferstehung und Erlösung legt. Leid wird mit Schuldgefühlen verknüpft. Der Mechanismus lässt sich auf die Formel reduzieren: Wie kannst du fröhlich sein, wenn Jesus für dich am Kreuze starb? Wer so argumentiert, hilft nicht beim Bekämpfen von Leid, nicht bei der Verarbeitung von Trauer, zeigt kein Mitgefühl, sondern vertieft nur das Leid und pflanzt es in noch mehr Köpfe. Was passiert, wenn man dieses Denken konsequent zu Ende führt, zeigt uns Eva Herman.
„Sex- und Drogenorgie: Zahlreiche Tote bei Sodom und Gomorrha in Duisburg.“ trollt sie christlich-konservativ. Gönnerhaft gesteht sie am Anfang zu, dass die Toten und Verletzten „zurecht beklagt“ würden und in gerade mal einem Satz gegen Ende des Artikels findet sie Worte des Mitgefühls für Opfer und Angehörige. Der ganze übrige Artikel zeichnet ein Bild einer durch und durch verdorbenen Veranstaltung, ortet moralischen Verfall, sieht den Begriff der Liebe durch den Dreck gezogen, bebildert das ganze mit einem Foto, das ein sich küssendes lesbisches Pärchen zeigt, und schafft es nebenher noch, sich mehrere Sätze lang über die „Qualität“ der Musik auf der Loveparade zu echauffieren – mehr Sätze, als Frau Herman für die Opfer übrig hat.
Auch sie beklagt sich über die Stadt Duisburg – von der Fehlplanung des Managements, die eine solche Katastrophe geradezu provozierte, sagt sie indes kein Wort. Die Schuld sieht sie darin, dass die Stadt überhaupt eine solche Veranstaltung zugelassen habe, der es an Sittlichkeit, Anstand und Moral fehle und die ein „kultureller und geistiger Absturz einer ganzen Gesellschaft“ sei. Frau Herman instrumentalisiert Tote, um Wind zu machen. Das ist mehr als nur Intoleranz gegenüber Andersdenkenden, das ist ein verbales An-die-Wand-Stellen.
Denn das amtliche Ende der »geilsten Party der Welt«, der Loveparade, dürfte mit dem gestrigen Tag besiegelt worden sein! Eventuell haben hier ja auch ganz andere Mächte mit eingegriffen, um dem schamlosen Treiben endlich ein Ende zu setzen. Was das angeht, kann man nur erleichtert aufatmen!
Eva Herman
Dass es sich bei diesen „anderen Mächten“ um Ufos, negative Astralenergien, Illuminaten oder Nazis aus der Antarktis handelt, können wir trotz der Publikation im Kopp-Verlag ausschließen – das ganze war in ihren Augen eine Strafe Gottes, was sie sich noch nicht einmal traut, klar zu sagen. Wer bei so etwas wie der Loveparade mitmacht, sei wohl einfach selbst schuld. Opfer, Angehörige, Trauernde und Mitfühlende dürfen sich bei Frau Herman und ihren Geistesverwandten noch zusätzlich eine Ladung Schuldgefühle abholen.
Angesichts solch abgrundtiefer Menschenfeindlichkeit bin ich froh, wenn Menschen einfach ihr Mitgefühl zeigen – auch wenn mal ein falscher Fuffziger dabei sein sollte.
Update: Mittlerweile wurden die Bilder ausgetauscht und zeigen eine abgedeckte Leiche, Einsatzkräfte bei der Arbeit sowie barbusige Frauen. Der Artikel wurde anscheinend noch nicht verändert, aber Screenshots des Originals kursieren sowieso durchs Netz.
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14 Antworten zu „Wie christlicher Fundamentalismus die Toten der Loveparade instrumentalisiert“