Dass ich schlecht höre, wissen viele, weil ich schlicht kein Geheimnis daraus mache. Warum auch? Manche Leute sind erstaunt, wie offensiv ich damit umgehe, obwohl ich gerade auf Stellensuche bin. Aber warum versuchen, etwas zu verbergen, das sich gar nicht verbergen lässt?
Mir ist völlig klar, dass mich viele Firmen wegen meiner Behinderung nicht einstellen werden, schon weil dieses Wort so abschreckend klingt. Dabei stellt sich die Frage, welche Rolle das eigentlich für meine Arbeit spielt. Mein Handicap bringt nämlich durchaus auch Vorteile mit sich – zum Beispiel wenn ich meine Hörgeräte ausschalte, dadurch fast völlige Stille schaffe und mich ohne jede Ablenkungen auf meine Arbeit konzentrieren kann. Das finde ich recht passend für jemanden, der schreibt, denkt, tüftelt und programmiert.
Interessant sind die Auswirkungen auf das kommunikative Verhalten. Ich meide Telefone, wo ich kann, und wäre sicherlich eine Fehlbesetzung am Kundentelefon. Wenn ein Sinn ausfällt, führt das aber auch dazu, dass sich die anderen schärfen. Bei mir ist das der Sehsinn: Ich nehme häufig Details wahr, die andere übersehen, und lese schneller. Grafisches Arbeiten, sich schnell irgendwo reinfuchsen, thematische Rollenspiele wie Usability oder Marketing liegen mir deshalb einfach.
Mein Leben verschriftlicht sozusagen. Ich bin ein Early-Adopter des Internet und betrachte es mittlerweile als meinen natürlichen Lebensraum, kenne all die Moden und unausgesprochenen Standards, habe ein Gefühl dafür, wann Unternehmenskommunikation im Web echt und wann aufgesetzt wirkt – gerade auch im Social Web. Online-Marketing kann ich schon deshalb, weil ich es unbeabsichtigt und von Natur aus in eigener Sache betreibe.
Bleibt die Offline-Welt: Auch hier bin ich wirklich kommunikativ, muss aber die Störfaktoren Telefon und laute Umgebung ausschalten. Das normale Teamwork im Büro funktioniert immerhin so gut, dass einige gar nicht merken, dass ich schlecht höre.
Aber mein Handicap hat mich noch auf andere Weise beeinflusst: Ich lebe in verschiedenen Welten zugleich: im Internet, in der Stille, aber auch in der ganz normalen, bisweilen ziemlich lauten Welt. Da hinterlassen ein und dieselben Dinge ganz verschiedene Eindrücke, je nachdem, in welcher Welt ich mich gerade befinde. Ich bin quasi gezwungen, vieles aus ganz verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten. Man sieht nicht nur über den einen Tellerrand, sondern erlebt mehrere sich überlappende Tellerränder. Ich behaupte: Gerade weil ich schlecht höre, kann ich sehr gut zuhören.
Auf der letzten Cebit machte mir ein Freund – Projektleiter in einer IT-Firma – am Ende einer Diskussion ein sehr schönes Kompliment: Er meinte, ich könne gut moderieren und verschiedene Standpunkte auf einen Nenner bringen. Das mache ich in Gesprächen sehr häufig und oft unbewusst. Seitdem frage ich mich, warum ich mich eigentlich auf ausführende Tätigkeiten beschränken sollte und nicht auch die Teamleitung übernehmen könnte.
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5 Antworten zu „Schlecht hören im Job“